Plötzlich und unerwartet
Heute ist der 11. Mai. In 40 Minuten wird sich mein Leben dramatisch ändern. Noch ahne ich nichts davon. Hildegard Knef singt aus meinem Autoradio: »Fuür mich sollʼs rote Rosen regnen«. Jaaa, gerne. Für mich. Genau! Ich flirte mit dem Autofahrer, der neben mir im Kreisverkehr um die Goldelse rauscht.
Es ist ein sonniger Mittwochvormittag in Berlin. Der erste frische Spargel aus Beelitz, Ruccola, frühe Erdbeeren und Tulpen liegen auf der Rückbank. Das alles habe ich gerade auf dem Winterfeldmarkt eingekauft. Zum ersten Mal in diesem Jahr trage ich ein sommerlich weißes Kostüm. Noch eine Drehbuch-Besprechung für einen neuen Fernseh-Krimi, dann werde ich für meine Eltern und mich kochen. Die Kastanienbäume haben ihre Kerzen entzündet. Herrlich!
Noch 36 Minuten, bis mein Herz schockgefroren wird.
Ich stopfe den Kopfhörer von meinem Handy ins Ohr. »Mammi? Ich binʼs, nur kurz: Ich komme etwas später, am besten, ihr esst noch etwas Obst.« – »Das passt gut«, antwortet meine Mutter fröhlich. »Ich gehe nachher mit Frau Erler auf ein Eis. Du kannst dir Zeit lassen, dein Vater schläft.
Hab eben vom Schlafzimmerfenster aus mit Hänschen gesprochen, mein ehemaliger Schüler, du weißt schon, der hat mal als Putzmann in der Pathologie gearbeitet, da kannste viel von ihm erfahren. Alles Gute für dich, meine besten Wünsche begleiten dich, bis später.« Genau gegenüber der Wohnung meiner Eltern gibt es einen Tante-Emma-Laden. Hier trifft sich die Nachbarschaft zu Bier oder Eis. Meine Mutter! Weder ihre schwere Arthrose noch 3 1⁄2 Stockwerke, für deren Überwindung sie mindestens 20 Minuten unter Schmerzen braucht, können sie von einem Plausch alle paar Wochen einmal abhalten.
Noch 20 Minuten, bis es passiert …
Das Büro des Produzenten präsentiert das neue Berliner Metropolenunderstatement: edel und schlicht, unauffällig perfekt. Wir haben den Erfolg und zeigen ihn nicht. Es befindet sich in der Etage auf der Gleishöhe zur S-Bahn-Station Berlin-Tiergarten. Beim Kaffeezubereiten in der Küche können wir den Passagieren in den vorbeifahrenden Zügen zuwinken.
Noch 15 Minuten, bis …
Meine Eltern sind seit 55 Jahren ein Paar. Sie haben sehr unterschiedliche Charaktere und Temperamente: mein Vater ist Pessimist und Atheist. Meine Mutter liebende Optimistin und Christin. Mein Vater ist am liebsten allein, liest und studiert. Meine Mutter liebt Gesellschaft, ist begeistert von Theater und Musik, sehr hilfsbereit. Im ehelichen Innenverhältnis sind beide kultiviert kontrovers, im Außenverhältnis immer solidarisch. Mein Vater hatte vor drei Jahren, einen Tag vor seinem 82. Geburtstag, einen Schlaganfall. Ich wollte nicht irgendwann an seinem Grab stehen und mit »allen Fragen offen« zurückbleiben. Also kehrte ich nach meinem jahrzehntelangen Nomadenleben mit einem Alibi-Wohnsitz in München und dem berühmten »Koffer in Berlin« zurück in den Koffer, in meine alte Studentenbude. Nach intensiver Pflege kam mein Vater halbwegs gesund wieder nach Hause. Der »Alte« wurde er nicht wieder.
Noch 9 Minuten …
Meine Mutter ist ein halbes Jahr jünger als mein Vater, leider hat auch sie in den letzten Jahren stark abgebaut, ihre Wege verkürzten sich dramatisch. Arthrose in allen Gelenken, Vergesslichkeit. Die 110 Meter zum Bäcker wurden unüberwindbar. Bus fahren unmöglich. Überhaupt muss man ja auch erst einmal zur Straße gelangen. Bei meinen Eltern bedeutet das das Bezwingen von 76 Stufen. Sie wohnen im 3 1⁄2 Stockwerk ohne Fahrstuhl, seit 44 Jahren. Ein Spaziergang am Sonntag ist höchstens noch eine Spazierfahrt. Meine Mutter ist immer gern eingekehrt, sie liebt es, auszugehen, die Gesellschaft und das Gespräch mit Menschen. Für meinen Vater war das schon immer eher lästig, zunehmend undenkbar. Zu viele Reize. Eine Kakophonie der Geräusche. Sein Hörgerät konnte nie optimal eingestellt werden, mehrere Versuche scheiterten. Er hatte einfach zu viele Hummeln im A … Seitdem garantiere ich ihre Versorgung, seitdem ist mein Handy immer eingeschaltet.
Noch 7 Minu …
Das Handy ist unser Sicherheitsnetz, unser doppelter Boden. Das beruhigt sie und mich. Selbst
meine Mutter, die anfangs gern zehnmal am Tag anrief, betreibt keinen aufreibenden Missbrauch mehr. Da hat sich meine anstrengende Pubertät gelohnt. Bei nervenden Rückf.llen ihrerseits brauche ich nur anzudrohen, in das Verhalten meiner Pubertät zurückzufallen. Das ist so abschreckend, dass wir uns schnell einigen können.
Wir telefonieren nun täglich Punkt 9 Uhr, und ich komme jeden Tag auf einen Sprung vorbei. Viermal die Woche koche ich. An zwei Tagen kommt die Haushaltshilfe Tina. Frühstück, Abendbrot und einmal pro Woche das Mittagessen in der Mikrowelle wärmen sind die Aufgaben meines Vaters, die er nicht leiden kann, aber korrekt erledigt. Wir vier sind ein eingespieltes Team.
Der Countdown läuft.
Der Produzent und ich sind gerade in wüsten Krimiphantasien, diskutieren, ob der Mörder eine Frau sein darf. Geht auch eine Farbige oder eine Türkin? Kann man das einem deutschen Fernsehredakteur zumuten? Oder besser doch ein Mann als Mörder? Vergiften wir ihn? Wird ererwürgt? Von Kugeln durchsiebt?
In 60 Sekunden …
Der Produzent fordert einen forensischen Clou für den Krimi: Sieht aus wie ein Unfall, ist aber eine raffinierte Manipulation. Ich gebe vor: »Der Tote liegt in der Wanne. Ein Stromunfall«. Er nickt: »Also Selbstmord.« – »Aber wie kommt der Brandfleck von dem Duschkopf an seinen Rücken?«, führe ich meinen Gedanken weiter. Er ist erstaunt: »Also Mord?« Ich lege nach: »Ein Stromkabel liegt im Badewasser. Seine Handtücher? Wo lagen sie, wo liegen sie? Wie sind sie gefallen …?« Er steigt ein: »Auf der verstaubten Ablage vor dem Spiegel ist der Abdruck eines Ringes. …« Mein Handy reißt uns aus den Gedanken. Es klingelt. Schrill. Ton-Einstellung: Draußen. Nervtötend aggressiv.
Das Display zeigt: »Eltern«.
(Fortsetzung #2 „Hilfe. meine Eltern sind alt!“)