Auszug #4

Auszug #4 aus „Hilfe, meine Eltern sind alt!

»Bei Bewusstsein. Atem-Aussetzer. Verdacht auf Schlaganfall, wahrscheinlich vor fünf Stunden, knappes Zeitfenster, Sprachstörung, Bluthochdruck«, antworte ich sachlich schnell. Sie befördern meine Mutter bestimmt, aber aufmerksam auf die Trage. »Die Patientin darf nicht liegen.Erstickungsgefahr.« Das Kopfteil wird hochgestellt: »Arbeiten Sie hier?«, fragt mich der Pfleger. Ichverstehe die Frage nicht: »Nein.« Sie fahren meine Mutter flott in die Unfallstation. Sie ist aufgeregt,ängstlich. Ich renne, schwitzend in meinem weißen Kostüm, neben der Trage her, halte ihre Hand. Im Untersuchungszimmer angekommen, schicken mich die Pfleger zur Notaufnahme. Ich soll die Formalitäten erledigen. Meine Mutter will nicht, dass ich gehe. Die Pfleger bestehen darauf, die Formalien sind nicht aufschiebbar. »Mammi, es kann nichts mehr passieren, der Arzt kommt gleich zu dir.« Ich verspreche, schnell zurück zu sein, sie dann nicht mehr allein zu lassen. Sie willigt ein.

Die Notaufnahme ist verwaist. Nach acht Minuten, eine gefühlte halbe Stunde, endlich, kommt die Schwester. »Zehn Euro! Und die Chipkarte.« Zurück zum Untersuchungszimmer. Ich klopfe. Ein mir unbekannter Pfleger steckt seinen Kopf zur Tür heraus. Er sagt, ich solle draußen warten, verwehrt mir mit seinem Körper die Sicht ins Zimmer. »Ich möchte bei meiner Mutter warten.« Das ginge jetzt nicht, erwidert er bestimmt, schließt die Tür. Irgendwie entlastet mich diese Unhöflichkeit. Auf der Bank im Gang halte ich es nicht aus.

Mein Vater ist sofort am Telefon: »Wir sind jetzt angekommen.« – »Heimgekommen? Das habe ich gar nicht gehört.« – »Nein, ann – geee – kommen im …« – »Gekommen, also alles halb so schlimm. Na, Gott sei Dank, ich bin schon ganz verrückt geworden. Ja, warum kommt ihr denn nicht rein?« Um die Notaufnahme nicht zusammenzubrüllen, gehe ich vor die große Glastür, halte meine Hand wie einen Trichter vor das Mikrofon des Handys, brülle hinein: »Wir sind jetzt im Krankenhaus ann – geeee – komm – meen.« In der Überführung hallt meine Stimme. »Was?«, fragt mein Vater. »Wir sind im Krankenhaus, im K R A N – K E N – H AU S sind W I R!!!!« Von irgendwoher ruft jemand: »Ja, ick ooch! Und ick bin janz alleene!« Mein Vater hat nun doch verstanden: »Ach, im Krankenhaus, ja gut, was hat denn so lange gedauert?« Ich gebʼs auf: »Mammi wird jetzt untersucht. Ich ruf dich wieder an.« Der Fremde: »Komm doch einfach vorbei.« Mein Vater: »Jetzt erst? Also noch alles offen? Das hält ja keiner aus. Ich mach mir jetzt ʼne Dose auf und sitze dann neben dem Telefon bereit.« Seine innere Angst höre ich, verdränge sie sofort, sonst kann ich nicht mehr funktionieren. Ich drücke die Austaste, gehe zurück in die Station, setze mich vor das Untersuchungszimmer.

Das Panik-Monster dringt aus allen Wänden, sucht nach neuen Opfern.

Wie viele Menschen waren hier schon verzweifelt? Ich zwinge mich zu stoischer Ruhe. Mein Hirn ist irgendwie leergeputzt. Nullinhalt. Leere.

Plötzlich höre ich einen Protestlaut meiner Mutter, das Lachen von Männern. Im Bruchteil einer Sekunde stehe ich im Untersuchungsraum. Meine Mutter rutscht gerade von der hochgestellten Rückenlehne auf die Trage. Ich sehe, wie ein Pfleger ihr den bereits unten geöffneten Body überden Kopf zergelt. Die Träger des Bodys haben sich in ihren Armen und an ihrem Kopf verfangen. Ungeschickt zieht er den Body weiter hoch. Der Kopf meiner Mutter schaukelt hin und her. Der Pfleger zerrt ihren rechten Arm in die Höhe. Sie stöhnt, schreit vor Schmerzen. Ein Zweiter hilft,indem er sie am Rücken nach vorn gedrückt hat, nun ihren linken Arm hochreißt. Ihr Schmerzensschrei wird spitzer. Wie eine Gummipuppe wird sie durchgeschüttelt. Sie wimmert. Die drei Pfleger lachen. Das alles in einem Tempo, als müsse sofort eine lebensrettende Maßnahme eingeleitet werden. Nach einer Schrecksekunde höre ich mich sagen:

»Schluss, ich übernehme das.«

Sofort kehrt Ruhe ein, sie treten zurück. Meine Mutter nackt auf der Trage. Ausgeliefert. Ein Pfleger sagt erklärend: »Wir haben über etwas anderes gelacht.« Mein Blick fällt auf ihre Strumpfhose, der Blick des Pflegers folgt meinem. Sie schlabbert ihr um die Knie. Mit meinem großen roten Kaschmirschal bedecke ich meine Mutter. Sie sieht mich mit kindlich weit aufgerissenen Augen an, flüstert: »nicht schön …« – »Sie haben nicht über dich gelacht!«, versuche ich glaubhaft zu versichern. Ich umarme meine Mutter. Sie erwidert meine Zärtlichkeit, indem sie ihr Gesicht an meinen Hals schmiegt. Mich durchflutet eine Welle voll Wärme, Nähe, auch Angst und Dankbarkeit, alles auf einmal. Wir schauen uns an.

Aus ihren Augen strahlt mir Vertrauen entgegen, ein Blick reiner Liebe. In einer seltsamen Weise fühle ich mich wohl, fast glücklich.

Ich helfe ihr aus dem Body. »Meine Mutter hat Arthrose in allen Gelenken. Jede Bewegung ist sehr schmerzhaft«, erkläre ich. Sehr leise, für sie nicht hörbar setze ich hinzu: »Meine Mutter ist 84, sie hat den Krieg in Berlin überlebt, Sie verstehen, an was sie das eben erinnert hat?« Pfleger Krüger, steht auf seinem Namensschild, setzt zu einer Entschuldigung – so interpretiere ich das – an. Ich sehe ihm direkt in die Augen und komme ihm zuvor: »Sie friert.« Er gibt einem Kollegen Anweisung, eine Decke zuholen.

Pfleger Krüger stellt sich und den verbliebenen Kollegen vor: »Johannes ist hier in der Ausbildung, darf er bei der Untersuchung dabei sein?« Wir stimmen zu. Die Spannung ist weg. Mein Adrenalinpegel sinkt wieder. Die Decke wird gebracht. Ich umwickle meine Mutter damit so, dass Pfleger Krüger sie für ein EKG verkabeln kann. Er erklärt ihr ruhig und freundlich, laut und langsam die einzelnen Schritte. Misst ihren Blutdruck. Er beruhigt uns, von diesen zwei Werten ausgehend bestünde im Moment keine akute Gefahr. Pfleger Krüger telefoniert, fragt, warum der Neurologe noch nicht da ist. Ja, er habe ihn bereits vor 20 Minuten angepiepst. Er ist ungehalten über die Antwort der Gegenseite. Ärgerlich verlässt er den Untersuchungsraum, um den Arzt persönlich zu holen. Azubi Johannes soll inzwischen die Medikamente und die Tagesmedikation in die Krankenakte aufnehmen. Kaum ist Pfleger Krüger zur Tür raus, entschuldigt sich Azubi Johannes für das raue Benehmen von vorhin. Er ist erst seit zwei Monaten in der Ausbildung. Er möchte Rettungssanitäter werden. »War das ein schlimmes Kriegserlebnis damals?« Ich nicke, signalisiere, dass dieses Thema jetzt und hier tabu ist. Mutters Medikamente habe ich alle in einer Plastiktüte dabei. Es ist ein ganzer Haufen. Wir zählen sie durch: 14. Nimmt sie die alle täglich? Ich weiß nichts von Krankheiten. Das kann nicht sein. Ich weiß, dass meine Mutter Informationen auf die Verpackung schreibt. Und richtig, auf jeder Schachtel steht das Verschreibungsdatum. Und auf mancher auch die Einnahmeverordnung. Ich erinnere mich, dass sie immer eine Medikamentenliste mit sich führt. Sie muss entweder beim Pass oder bei der Busjahreskarte sein. Ich durchsuche ihre Handtasche, finde eine Liste, doch die ist drei Jahre alt! Wir vergleichen die Angaben. Nur noch ein Medikament stimmt überein. O. k., es bleiben Medikamente für Blutdruck, Puls, Entwässerung, Cholesterin, Arthrose, Schmerzmittel …

Es ist Mittwochnachmittag, der Hausarzt ist nicht zu erreichen. Ich zeige meiner Mutter die einzelnen Medikamente und frage sie, ob sie die täglicheinnimmt. Aus ihrer Phantasiesprache werde ich nicht schlau. Auch der erneute Versuch, es mit Kopfnicken für »ja« und Kopfschütteln für »nein« zu probieren, scheint mir nach einem Überprüfungsversuch nicht verlässlich. Manchmal sehen ihre Augen aus, als wären sie blind.

Ihre Reaktion ist, als ob sie nichts gesehen hätte.

Pfleger Krüger kommt mit dem Arzt zurück. Die neurologische Untersuchung ergibt: eine leichte linksseitige Lähmung, eine Apraxie, und eine Störung des Sprachzentrums, eine Aphasie. Er ordnet eine Computertomographie (CT) an. Hält eine stationäre Aufnahme für wahrscheinlich. Nur so könnte man auf einen weiteren Hirninfarkt schnell genug reagieren und vielleicht noch schlimmere Folgen verhindern. Eine genaue Diagnose gibt es nach der CT. Wir sind dort angemeldet.

Damit es schneller geht, bittet mich der Arzt, meine Mutter im Klinikbett selbst zum CT-Gerät zu schieben. Die Schwestern und Pfleger aus der Notaufnahme sind unabkömmlich. Bis jemand aus der Zentrale kommt, vergeht wertvolle Zeit.

Selbst ist die Frau.

Alle Gänge sehen gleich aus. Man muss einfach nur der blauen Linie am Boden folgen.

(Fortsetzung im Buch …. Hilfe, meine Eltern sind alt!)