Ich renne aus dem Haus, hole meinen Benz und fahre ihn direkt auf den Bürgersteig vor die Haustür, lade das Gepäck ein. Oben nehme ich zwei Küchenstühle und stelle sie auf dem nächsten und übern.chsten Treppenabsatz bereit. Wie gesagt: kein Fahrstuhl, 3 1⁄2 Stockwerke. Ich gehebehutsam mit meiner Mutter hinunter. 76 Stufen! Sie will allein gehen mit ihrem Stock und einer Hand am Geländer. Füsschen zu Füsschen, jede Stufe einzeln. Ich schiebe meine Hand vorsorglich unter ihren Oberarm. Um für eine mögliche Hilfe bereit zu sein. Wenn ich bei einem Sturz ersthinlangen muss, habe ich keine Chance, sie zu halten. Erschrocken fühle ich, wie filigran ihre Knochen sind. Wie zart und zerbrechlich sie ist, trotz eines Gewichts von 73 Kilogramm auf 1,58 Meter. Wenn sie jetzt stürzen würde, ich könnte so nichts ausrichten. Ich würde ihr alles brechen.
Also gehe ich vor ihr rückwärts die Treppe herunter, immer bereit, sie sofort aufzufangen. Bei ihrem Gewicht dürfte das auch eine Herausforderung sein. Auf jedem Treppenabsatz setzt sie sich, sichtlich erschöpft. Ich trage den Stuhl vom vorletzten Absatz zum übernächsten. Jedes Mal, wenn ich meiner Mutter wieder aufhelfe, spüre ich ihren Willen und eine neue Kraft in ihr, die Treppe zu bewältigen. Ich erinnere sie immer wieder daran auszuatmen. Nicht die Luft anzuhalten. Ich atme ihreinen Rhythmus vor, sie hängt sich mit ihrem Atem ein. Unten angekommen nickt sie befriedigt: geschafft. Noch sind die Haustür, zwei Steinstufen ohne Geländer und eineinhalb Meter bis zum Benz zu überwinden. Dafür brauchen wir über acht Minuten. Mein Vater sieht uns aus dem Fenster Vor dem Einsteigen dreht sich meine Mutter um, sie hebt ihr Gesicht zum Himmel, sie erwartet, die Hausfassade zu sehen, ihren Mann im Schlafzimmerfenster, aber ihr Blick geht ins Leere, in denHimmel über der Straße. Sie ist irritiert. Sie winkt hoch, wie sie es immer getan hat. Ohne ihn zu sehen. Mein Vater beantwortet ihre Geste. Es wirkt wie ein letzter Gruß. Ich helfe ihr ins Auto, winke meinem Vater zu, steige selbst ein. Kalt spüre ich, wie mein weißes Kostüm schweißnass an meinem Rücken klebt. In dem Moment beginnt es zu regnen.
Die Stadtautobahn ist leer, grau, neblig. Ich fahre 130km/h. Meine Mutter sitzt blass und klein auf dem Beifahrersitz. Sie schweigt, wirkt wie weggetreten. Ich erzähle ihr, wohin wir fahren, dass ich bei ihr bleiben werde, dass wir das schon schaffen werden. Ich lege Mozart auf. Wir fahren durch die triste, diesige Suppenküche. Plötzlich regnet es in Strippen. Die Tropfen prasseln lautstark auf das Auto. Springen vom Asphalt wieder in die Höhe. Meine Mutter hebt ihren Kopf, sieht durch die beschlagene Windschutzscheibe und sagt mit klarer, aber kaum hörbarer Stimme: »Jetzt gehe ich auf die große Reise.«
Ich schlucke, fokussiere die Autobahnspur vor mir. Die Scheibenwischerbewegen sich im Höchsttempo. Mozart im Crescendo. Ich sehe wieder zu ihr hin: Ihr Kopf fällt auf ihre Brust, wie ein Stein. Abrupte Stille in meinem Kopf. Schlagartig habe ich einen brennenden Schmerz in meinem Herzen, der sich links über den Hals in mein Hirn vorschiebt. Mein Körper steht in Millisekunden unter Wasser. Werde ich ohnmächtig? 170 km/h zeigt der Tacho.
Meine Mutter liegt im Beifahrersitz, zusammengesunken. Ihre Brust ohne Bewegung.
Ich höre mein eigenes Schnaufen. Ich japse. Beherrschung! Beginne bewusst zu atmen, zähle mein Ein- und Ausatmen, verlängere die Phasen dazwischen. Ein- und ausatmen, eiiiinnn und auuusss. Allmählich komme ich wieder zu einem normaleren Atemfluss, schalte die Warnblinkanlage an, bremse langsam in Intervallen ab. Das Atmen meiner Mutter sehe ich nicht. Ungläubigkeit macht sich in mir breit.
Waren das ihre letzten Worte? Ist das gut? Verzweiflung steigt auf. Ist sie JETZT TOT??????
Ich reduziere das Tempo weiter, fahre auf die Standspur. Atme konzentriert. Wäre das ein guter Tod? Wäre ihr das zu wünschen? Wie erkläre ich eine tote Mutter auf meinem Beifahrersitz? Diese Gedankenrasen mir durch den Kopf, parallel. Muss ich noch ins Krankenhaus fahren? Zur Polizei? Gleich ins Leichenschauhaus? Erst einmal auf die Standspur.
Zaghaft taste ich nach ihrem Puls.
An ihrem Handgelenk spüre ich nichts. Am Hals auch nichts. Ich lege mein Ohr auf ihr Herz. Nichts. Nichts! Mein Atem steht jetzt auch still. Gnadenlose Stille. Was muss ich jetzt machen? Ich starre in eine graue Nebelwand. Kein anderes Auto ist unterwegs. Niemand. Ganz ruhig, Ilse, was mache ich jetzt?
Plötzlich knattern im Stakkato Laute aus ihrem Mund, wie ein Bellen, ein stotterndes Husten. Ihr Atem setzt wieder ein. Den Mund weit offen, wirft sie ihren Kopf hin und her. Die Augen geschlossen. »Mammi? Maaammi!? Du musst atmen: ein und aus. Nase ein. Mund aus. Nase …« Sie hört mich nicht. In mir tobt es: ›Sie lebt! Sie lebt! Wir habe eine Chance.‹ Gang rein, mit Vollgas weiter zum Krankenhaus.
Der Pförtner gibt unbeteiligt Auskunft. Öffnet die Schranke. 30km/h sind hier vorgeschrieben. Schleichen die Rettungswagen die letzten 300 Meter? Das kann nicht sein. Patienten und Spaziergänger schlendern im Park, erzwungene 30km/h. Ich halte auf dem Parkplatz für Notfallfahrzeuge, es gibt viele davon.
Ehe ich aussteigen kann, kommen zügig zwei Pfleger aus der großendoppelten Automatik-Glastür. Sie haben über Monitor unsere Ankunft gesehen. Sie rollen eine Trage ans Auto, fragen routiniertdie Daten ab: »Bei Bewusstsein?«
Meine Mutter antwortet: »Schmulze zack, gna.«
(Fortsezung Auszug 4#)