Kapitel #1: „Glücklichste Mensch in Welt“

»Sie sind glücklichste Mensch in Welt!«, sagte der Ayurveda-Arzt in der Erstuntersuchung zu meiner Kur in Sri Lanka. Seit einer halben Stunde hielt Dr. Budehke meine rechte Hand, leicht und trocken, verbunden aber nicht klammernd. Er hatte sie nach dem Begrüßungshandschlag und der Pulsdiagnose einfach nicht mehr losgelassen. Hatte ich das richtig gehört: »Sie sind glücklichste Mensch in Welt!«? Dr. Budehke sprach in Englisch zu mir: »Your’re happiest person in world!« Das klang wunderbar in meinen Ohren. Doch: »Well, Dr. Budehke in Germany they would call it Burn Out.« – »Nun, in Deutschland würden man das Burn Out, Erschöpfungs-Depression nennen«, antwortete ich ihm trocken. »Germany call this Burn Out – diprässion????« fragte der Arzt ungläubig. Ich nickte bestätigend. Dann durchfuhr es mich – bedeutete nicken in Asien nicht »Nein«? Ich schickte schnell ein »Yes, yes« hinterher. Dr. Budehke begann lauthals zu lachen. Ja, er warf sich in seinen Teakholzsessel zurück gegen die hohe Lehne. Schnellte wieder nach vorne. Er bog sich vor Lachen, konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Ich war irritiert. Ein lachender Arzt. Ohne jedes Schamgefühl. Wollte er mich provozieren? Dann strahlte er mich aus blitzenden, dunklen Augen an: »YOU’re in trans-for-määätion!« verkündete er. »SIE sind in Transformation!« Transformation? In Deutsch also: »Wandel« übersetzte ich mir. Er lachte fröhlich weiter: »T r a n s f o r m äää t i o n!« es klang wie ein Jubel. Wie etwas ganz besonders Wünschenswertes. In meinem Kopf schwirrten die Silben »transss«, »form«, »ääschen«, weiter, verbogen sich zu »tanz«, »for«, »action« im Klang seiner Diktion. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Er machte sich Notizen und hielt meine Hand weiter ohne Bewegung. Meine Sinneswahrnehmung verschob sich und ich nahm seine Hand in meiner überdeutlich wahr. Seine war schmal, zierlich, warm. Nein, seine Hand war kühl und meine heiß. Oh Gott, schwitzte ich? Unsere beiden Hände waren trocken. Ich spürte intensiv seinen Puls und auch meinen. Irgendwie fand zwischen Dr. Budehke und mir eine Synchronisation statt, so wie ich mein iPhone mit dem Laptop synchronisiere. Irgendetwas passierte. Aber was? Rein faktisch saßen in diesem Behandlungszimmer mit Fensterfront zum Park und dem Indischen Ozean drei Menschen an einem Tisch: die Dolmetscherin, Dr. Budehke und ich. Dr. Budehke hielt meine Hand und schrieb eine Verordnung für mich. Die Dolmetscherin las und übersetzte die Verordnung. Ich saß dabei. Wir waren alle stumm. Das Empfinden der zeitlosen Verbundenheit unserer Hände schuf eine Verbundenheit jenseits der Worte. Das öffnete einen inneren Raum in mir: »Ich werde verstanden«, nahm ich wahr. Eher als ein Gefühl als einen Gedanke und plötzlich kam ein kleiner Spannungseinbruch und ich war sehr, sehr erschöpft: »Ich bin in einer Wandlung? In einer Transformation?«, hatte er das gesagt? Dieses plötzliche Möglich-Werden einer Erschöpfung fühlte sich an wie ein kleines zaghaftes sich Hingeben zu einer Wandlung. Seine Worte hatten mein Herz berührt. Plötzlich war ich ganz schüchtern. Würde mir die Resonanz von Dr. Budehke jetzt helfen?

Dr. Budehke lachte weiter. Lachte er über mich!? Lachte er mich gar aus? »You happy, all goddesses loving you!« – »Sie sind glücklich, alle Gottheiten lieben Sie!« Ich war baff. Mein Gehirn wollte dem nicht folgen. Es wollte gerne, konnte es aber nicht: »Götter? Stolz auf mich? Gott?« Wollte er mich veräppeln? Es gab einen Ruck in meinem Denken. »Jemand wäre stolz auf mich?« Ja, ich war schockiert. »Stolz auf WAS?« dachte ich. »Und WER sollte stolz sein auf mich?« Dr. Budehke sah mich mit freundlicher Intensität an. Langsam klickte es bei mir: Sooo also konnte man meinen jetzigen Zustand also auch sehen? »Ich: Stolz und glücklich? Mit mir?«

Nach dem Ausatmen hörte ich mich sagen: »But …« – »Aber …«, hob ich an. Er lächelte, sagte aber streng: »NOOOOOOO BUT!« Seine Augen duldeten keinen Widerspruch, dennoch war sein Blick liebevoll: »After all the love you gave you’ve good karma now. Nothing bad can happen to you. You’re lucky one!« – »Kein aber! – Nach all der Liebe, die Sie gegeben haben, haben Sie ein gutes Karma. Nichts Schlechtes kann Ihnen passieren. Sie sind eine Glückliche!« Mein Herz blies innerlich in Fanfaren: »Jaaaaaaaaaaaaaaa!!!!!!!!!!!!!!!!!!!« Und lachte und purzelte in wilden Sprüngen herum. Ein kleines Lächeln kroch in meine Mundwinkel: Ja gerne, ich will, ich will, ich will und möchte! Dr. Budehke schwieg. Er machte sich Notizen. An einem Dialog war er nicht mehr interessiert. In meinem Kopf rumorte es: »Es stimmt: Ich bin glücklich. Wieso fühle ich mich dann nicht glücklich? Sondern das Gegenteil davon? Oder nicht einmal das, eher: einfach gar nichts? Was ist los mit mir?«

Nach der Konsultation ging ich am Indischen Ozean entlang – der übrigens so laut brüllte, als würde man mitten in einem Orkan stehen – zurück zu meinem Zimmer. »Das ist es! Das ist die Lösung«, dachte ich. Tief in mir war da plötzlich ein Aufatmen. Ein Gefühl, als würde eine graue Panzerschicht, die ich auch zum ersten Mal bemerkte, Risse bekommen. »Ich kann eigentlich wieder abreisen. Ich brauche keine Ayurveda-Kur mehr«, dachte mein sparsames Ich. Es stimmte: »Ich bin mit mir im Reinen. Also: Ich bin glücklich.« Den letzten Satz wiederholte ich immer wieder, nur es tat sich nichts in mir. Ich konnte mich selbst nicht hören! Ich brauchte Erholung – da war mein Gefühl richtig gewesen. Irgendwo in mir hörte ich ganz leise ein »Ja« wispern: »Das ist es!«

Ich machte die Ayurveda-Kur. Das war keine Wellness, sondern ein medizinisches Programm. Herren wurden von Masseuren »bearbeitet« und Damen von Damen. Mal eine Massage mit Puder. Puder ist eine sehr poetische Umschreibung von Kleinstkristallen, die synchron von zwei netten Damen mit strengen Händen über den ganzen Körper gerubbelt wurden. Ich nenne es mal freundlich: intensiv. Das war ein Gefühl von einem Ganzkörper-Peeling mit grobem Schmirgelpapier. Danach wurde ich in eine Liegesauna gesteckt. Sauna bei einer Außentemperatur von 40 Grad Celsius. Das ist eine Holzkonstruktion: Unten ein halbhoher Schrank, in die mehrere Kessel mit heißem Wasser eingestellt werden. Der Dampf dringt durch Löcher nach oben. Dort, auf Bananenblättern, lag ich nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Die tonnenartige Abdeckung wurde am Hals mit Handtüchern abgedeckt. Der Kopf blieb draußen, aber nur, um eine ekelige – natürlich sehr helfende – Medizin einzunehmen. Dafür wurde mir liebevoll der Schweiß abgetupft. Anschließend gab es Nasenspülungen. Oder die Klopfmassage. Das klingt auch so zart. Während der Behandlung hatte ich vor meinem inneren Auge immer Alfons Schubeck und Horst Lichter gesehen, die mit riesigen Fleischklopfern mich mit einem Kalbfleisch verwechselt hatten, das sie zu einem leckeren Wiener Schnitzel verarbeiteten wollten. Danach  gab es eine Behandlung mit heißen Öllappen. Lappen mit wirklich heißem Öl, die, wenn sie auf eine angenehme Temperatur herunter kühlten, sofort durch neue sehr heiße Lappen ersetzt wurden. Ein andermal würde mir eine »Krone« aus Bananenblättern und eine Kräuterfüllung aufgesetzt. Die Krone blieb den ganzen Tag.

Ilse in Sri Lanka
Ilse in Sri Lanka

Jeden Tag hatte ich vor und nach den Behandlungen einfach rumgelümmelt am Indischen Ozean. Ich habe frischen Kokosnusssaft laut ärztlicher Verordnung vor Sonnenaufgang serviert bekommen und danach über den Tag verteilt literweise frisch gepressten Limonensaft »with very little palmsugar, please« und Hibiskussaft getrunken. Jedes Getränk wurde mir mit einem Lächeln gebracht. Dazwischen wunderbare Mahlzeiten, auch pünktlich um 17:00 Uhr eine Tea Time mit Ceylon Tee, der jetzt politisch korrekt Sri-Lanka-Tee genannt wurde. Ein Paradies. Ich wurde viele Male am Tag angelächelt. Aus professionell verordneter und herzlicher Freundlichkeit. Die aufmerksame Freundlichkeit tat mir gut. Wenige Gäste waren gleich alt. Alle taten sich etwas Gutes an. Ich habe von einem anderen Gast etwas Schwäbisch gelernt. Wir alberten herum und ließen einfach alles auf »le« enden: »Noch ein Säftle? Ein Teele, ein paar Igele?« Igele waren Lychees noch in Schale.

Manchmal wurden wir in nebeneinanderliegenden Kabinen behandelt. Für eine natürliche Ventilation reichten die Wände zwischen den Behandlungsräumen bis 30 cm unter die Decke. Der lustige Schwabe fragte fröhlich seine Behandler aus: »Was essen Sie? Haben Sie Familie? Können Sie sich auch Hühnchen leisten? Fisch? Wie leben Sie?« Das alles in einem lustigen Schwabenenglisch. Seine Jungs flüsterten schüchtern die Antworten. »Wie ist das mit den Frauen? Schon verheiratet? Ab wann kann man sich das hier leisten?« fragte er fröhlich weiter. Aus den Nebenzimmern zischten Mitgäste um Ruhe. Meine beiden Damen kicherten und flüsterten leise. Sie hatten mich schon in der ersten Behandlung gefragt: »Are yuuu maaarit?« – »Sind Sie verheiratet?« Mein Kopfschütteln hatte sie traurig gestimmt. Die Ältere hatte mir sogar die Schulter getätschelt. Ich fand heraus, dass sie auch unverheiratet war und keine Kinder hatte. Sie lebte in einem Haus für »einsame« Frauen. In Sri Lanka stehen unverheiratete Frauen auf der Werteskala ganz weit unten. Frauen sind sowieso nicht gleichberechtigt. Für den nächsten Behandlungstag brachte ich Oropax mit. Das war zwar schade, denn die Brandung vom Indischen Ozean war ja Musik für meine Seele. Ich wollte einfach kein Spielverderber sein. Oder Nachtigall ick hör dir trapsen: War das wieder der angepasste Teil meiner Persönlichkeit?

Ein geraubter Blick

Nun hörte ich das Rauschen meines eigenen Blutes und meinen Herzschlag, als mich plötzlich spitze Schreie erschreckten und mir unsanft ein Tuch über meinen öligen Körper geworfen wurde. Ich schlug die Augen auf und sah meinem Nachbarn, dem lustigen Schwaben, direkt ins Gesicht. Sein Kopf ragte über die Wand. Er hing im Klimmzug und schaute auf mich herunter. Im schönsten Schwäbisch sagte er: »Wollt nur mal schauen, wie es dir geht, Ilse!« und lachte sein dröhnendes Lachen. Die Damen drohten ihm und wollten ihn verjagen. Sie stellten sich schützend vor mich und warfen mir weitere Handtücher und aua heiße Lappen über. Aber wie sollten sie das machen, ohne unfreundlich zu werden? Seine Masseure riefen unterdrückt: »Nononono Mister, nononono!« Also riefen meine Damen auch: »Nonononoo!!!« Mit einem weiteren Lachen war der Schwabe schwupp wieder weg. Ein vielstimmiges Zischkonzert begleitete seinen Abgang. Wir sechs lachten im Kanon in zwei Räumen. Immer wenn einer aufgehört hatte, brach es aus einem anderen wieder hervor und der steckte alle anderen wieder an. »Nonononoo!!!« Bis wir streng von der Managerin der Abteilung zur Ordnung gerufen wurden. Meine Damen flüsterten erregt in Srilankisch, sie hatten eine Idee. Das sah ich ganz deutlich. Ich lächelte sie, wieder nur mit Slip bekleidet, im Sesamöl nahezu schwimmend, auf meinen Bananenblättern liegend aufmunternd an. Sie fassten sich endlich Mut und wisperten mir zu: »Now, män has du maaarrry yiu!!! Guuut määän!« In ihrer Wahrnehmung hatte mich der Schwabe kompromittiert, indem er mich halbnackt im Öl auf dem Behandlungstisch liegend gesehen hatte. Ein geraubter Blick. Ich erzählte es beim gemeinsamen Abendessen. Alle in unserer Tischrunde fanden das lustig. Für uns Westler war es eine Art historische Bewertung seines Benehmens. Irgendwie auch schön.

Ha!!! Jetzt muuschst du

Am nächsten Tag wurden wir wieder in nebeneinanderliegenden Zimmern behandelt. Diesmal war ich zuerst fertig. Mit Turban, in ein Tuch gewickelt, schulterfrei, von meinen Damen mit einer Hibiskusblüte geschmückt, ging ich lautlos nach nebenan. Dort gab ich seinen Masseuren ein Zeichen zu schweigen. Meine Damen folgten mir und spielten empörten Protest. Aber nur mit Gesten. Ihre Augen leuchteten. Sie hielten mir die Schwingtüren auf und ich schlich in den Raum und trat unbemerkt hinter den lustigen Schwaben. Sein Masseur nahm die Hände von seinem Nacken. Noch ehe ich meine Hand auf seiner Haut hatte, mussten seine männlichen Behandler so kichern, dass er sich zu mir umdrehte und mir ernst und spontan entgegenschleuderte: »Ha!!! Jetzt muuschst du mich abba heirate, Ilsle!!!« Ich hörte mich sagen: »Gut, aber das hältst du nicht aus.« Und war erschrocken über meine Antwort. Lachend gingen wir Arm in Arm zu den Liegestühlen mit Meeresblick.

Ich liebte die Baumhörnchen, die frech das Essen stahlen. Ich saß auf der Terrasse in der Nacht und malte bei Kerzenschein. Ich löschte die Lichter am Pool und schwamm unter den Sternen. Lümmelte auf Liegen im Garten und schaute in den Horizont über dem Meer, untermalt von dem Getöse des Indischen Ozeans als Punk-Band. Kein Alkohol, keine Musik, kein Fernsehen. Ich besuchte einen Mönch und bekam eine Unterweisung. Ich ließ mir einen Sari anpassen. Und lernte, dass in Sri Lanka »You are a fat woman!« ein Kompliment ist und dass dick sein bei einer Frau als reich und erfolgreich verstanden wird. Ich übte, gedankenfrei aber wach im Hier und Jetzt zu sein.

Am Tag vor meiner Abreise hatte ich meine Abschluss-Konsultation. »Sie sind überhaupt nicht entspannt!!!« – »You’re nooot relääxt at all!!!« sagte Dr. Budehke. Er sah mich durchdringend an. Ich fühle mich wie ein Kind, das eine schlechte Zeugnisnote bekommt. Wie, ich war nicht entspannt? Ich dachte, das hätte ich hier vier Wochen getan: Entspannen. Hatte mich doch erfreut an dem Blick aufs Meer. Hatte nur wenige Ausflüge gemacht auf sein Anraten hin, um in der Ruhe zu bleiben. Und nu alles für die Katz? Er war unzufrieden mit meiner Veränderung: »Why you’re not häääppy?« – »Warum sind Sie nicht glücklich?« Ich hob zu einer Erklärung an: »Ich denke, I think …« Ich wurde von seinem Nachäffen unterbrochen: »Think, think, think …« Mann, was soll ich denn noch machen. Ich wurde sauer, ich holte tief Luft und wollte sagen: »OK, ich will es gerne versuchen« Ich kam genau bis: »Ok, I will …» – »Don’t WILL.« Ich musste schon fast lachen, ich hätte gedacht, er unterbricht mich bei »versuchen« und hätte gekontert, nicht versuchen, sondern einfach tun. Ich setzte noch einmal an: »But …« – »No but!!!« Dr. Budehke schüttelte seinen Kopf so, als hätte er eine arme Irre vor sich sitzen. Am besten wäre es, schlug er mir vor: »You stay here, you need more time.« Noch bleiben? Ja gerne, obwohl ich auch die Nase voll hatte vom »Nichtstun«. Doch ganz real überstieg das meine finanziellen Möglichkeiten. Ich verdankte diese Reise meinem »geheimen Konto«. Das ist seit meinem ersten Engagement mein Sparschwein-Konto »nur für mich«. Seit meinem 14. Lebensjahr wird da monatlich ein kleiner Betrag überwiesen. Mit Sri Lanka hat es seine Bestimmung erfüllt und ist nun blank. Weitere Einzahlungen leider bis auf weiteres gestoppt. Dr. Budehke sah mich sehr ernst an: »Schade!« las ich in seinem Blick, dann sagte er bedacht und mit Nachdruck: »Ilsa, you’re in transformääätion.« Dieser Satz sollte jetzt die Wirkung von weiteren Monaten Heilung in der Klinik haben: »Ilsa, you’re in transformääätion.« Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder ein Buchstaben-Ballett, wie von Egon Schiele ausgestattet. Die tanzenden Buchstaben formen sich zu neuen Worten: motion, inform, … Sie tanzen weiter, finden sich zu immer neuen Kombinationen: Määä-tran-tion. Dr. Budehke beendete unser Gespräch mit einem festen Händedruck, den Worten und seinem Lachen FÜR mich: »Soon you feel: You’re hääppieest person in world.«

 

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